Im Restaurant Grimsel Hospiz bin frühmorgens der einzige Gast. Nach dem Kaffee geht der Wanderweg vom Hospiz hinunter zur Staumauer und danach wieder steil die glattgeschliffenen Felsen hinauf. Im ersten Drittel der Strecke gibt es ein paar Stellen, an denen man besser nicht ausrutschen sollte. Obwohl die schwierigsten Stellen mit Seilen abgesichert sind, möchte ich bei Schneefall auf diesem Streckenabschnitt nicht unterwegs sein. Das Wegstück bis zum Seeende ist weiss-rot-weiss mit Level T3 gekennzeichnet, der weitere Weg bis zur Lauteraarhütte weiss-blau-weiss mit T4. Am gegenüberliegenden Hang sehe ich die Sonne aufgehen, jetzt wird es wärmer.
Grimsel Hospiz
Staumauer Grimselsee
Sonne über dem Grimsel Hospiz
Hier und an anderen Stellen sollte man nicht ausrutschen
Der Wanderweg geht immer dem See entlang
Nach dem ca. 100 Meter langen Tunnel im Fels beginnt die eigentliche Wanderung: eine traumhaft schöne, nordisch anmutende Landschaft in herbstlichen gelb und braun Tönen. Ein kleiner Wasserfall plätschert über glatte Felsen. Das Wasser stammt aus dem benachbarten Bächlital und wird durch einen Stollen in dieses Tal und damit in den Grimselsee geleitet.
Es braucht nicht unbedingt eine Taschenlampe im Tunnel
ab hier wird die Landschaft Fjord-ähnlich
Das Wasser stammt aus dem benachbarten Bächlital
Der Weg geht stetig auf und ab. Ich geniesse das Alleinsein, die Ruhe und die Stille. Die Sonne von hinten wirft ihren Schatten voraus. Staub auf den Schuhen, vereinzelt tanzen noch Schmetterlinge in der Luft, Vögel zwitschern. Kein Mensch weit und breit. Nur Elementares: Luft, Wasser, Sonne, Wind, Hunger und Durst. Das trockene Gras ist gelblich, nicht beige wie im Wallis. Wacholdersträuche und knorrige, kleine Arven säumen den Weg. Der Grimselsee erinnert ein wenig an einen Fjord. Die umliegende Landschaft ist zwar weniger grün als in Norwegen, dafür alpiner und südlicher, was mir persönlich besser gefällt. Dass der See künstlich angelegt wurde, vergesse ich nach kurzer Zeit. Auch dass im See das alte Grimsel Hospiz unter den Wassermassen begraben wurde.
eine nordisch anmutende Landschaft
knorrige Arven und glatte Felsen
Bei Mederlouwenen, ein Flachmoor von nationaler Bedeutung, gibt es dann richtige Bäume: grosse Arven und Espen. Viele kleine Bäche fliessen vom Berg hinab in den See. Ob man dieses Wasser gefahrlos trinken könnte? Da ich meinen Wasserfilter zu Hause vergessen habe, verzichte ich darauf und leide Durst. Schritt um Schritt auf einem Wanderweg, der perfekt hergerichtet wurde. Ich bin beeindruckt, wie sorgfältig teilweise massive Felsplatten für den Weg verlegt wurden. Die Gummisohlen haften gut auf dem trockenen Fels, dazwischen gibt es auch kurze sumpfige und nasse Abschnitte. Ich pflücke ein paar Wacholderbeeren von den Sträuchern und verreibe sie zwischen den Fingern. Ich liebe diesen frischen und herben Duft. Die Sonne scheint auf mein Gesicht, ich spüre die Wärme und bin dankbar für diesen Tag. Das Glück liegt manchmal gleich um die Ecke, man realisiert es nur nicht oder eben nur so selten wie heute.
bei Mederlouwenen werden die Bäume grösser
Der Ursprung der Aare: das kleine Bächlein ist die Aare
Am Ende des Sees sieht man auf die Moränenlandschaft des Unteraargletschers mit Sand wie am Meer, den Unteraargletscher selbst, das Lauteraarhorn und andere, weniger bekannte Gipfel, z.B. das Hugihorn. Als kleines Bächlein kommt die Aare aus dem Unteraargletscher und fliesst in den Grimselsee. Hier kommt also die Aare her! Was sie von da aus bis zu unseren Städten schon alles erlebt hat. Als erstes kommt der Oberaarbach vom Oberaargletscher und fliesst ebenfalls in den Grimselsee. Nach dem Grimselsee folgen die Turbinen der KWO-Kraftwerke, dann die Aareschlucht, der Brienzersee und der Thunersee bis sie schliesslich in ihr heutiges Korsett gezwängt als gezähmter und begradigter Fluss Richtung Bern fliessen kann. Bekannte Flüsse, die ebenfalls Wasser für diesen Teil der Aare beisteuern, sind die Lütschine, die Kander und die Simme.
Moränenlandschaft mit viel Sand: Unteraargletscher
Auf dem Rückweg zum Grimsel Hospiz geniesse ich nochmals den gut ausgebauten Wanderweg, die Natur und die Stille. Ich hatte Glück mit dem Wetter: der Tag war warm und wolkenlos, die Sicht klar. Schon am nächsten Tag zogen Schleierwolken auf, in der anschliessenden Woche schlug das Wetter endgültig um und der Grimselpass wurde geschlossen. Ein perfekter Abschluss der Sommersaison aber bestimmt nicht die letzte Wanderung in diesem herrlichen Gebiet.
Massive Felsplatten bilden den Wanderweg
Der Weg geht auf und ab
Das Hospiz ist bereits in Sicht (Bildmitte)